Was steckt hinter der Bewegung «Mass-voll»?

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Free Hugs und VerschwörungstheorienWas steckt hinter der Bewegung «Mass-voll»?

Zwei Kernmitglieder des Coronamassnahmen-kritischen Vereins «Mass-voll!» verbreiten Verschwörungstheorien. Co-Präsident Nicolas A. Rimoldi, der «die Jugend befreien» will, distanziert sich davon nicht. Ein Sozialwissenschaftler warnt vor dem Verein.

Darum gehts

  • Seit Ende Februar präsentiert sich der Verein «Mass-voll!» in einem hippen und professionellen Gewand.

  • Mit friedlichen Protesten wollen sie die Coronamassnahmen abschaffen, die laut ihnen den Jugendlichen mehr schaden als nützen.

  • Brisant: Kernmitglieder von «Mass-voll!» verbreiten Verschwörungstheorien.

  • Ein Experte warnt vor einer möglichen Radikalisierung der Mitglieder.

Den Verein «Mass-voll!» gibt es erst seit drei Wochen. Doch schon jetzt zählt die selbsternannte Jugendbewegung, die alle Corona-Massnahmen abschaffen will und sich zum Ziel gesetzt hat «die Jugend zu befreien», etwas über 2000 Followerinnen und Follower auf Telegram, 850 auf Instagram und auf Twitter 760. «Die Massnahmen schaden den Jugendlichen mehr, als dass sie ihnen nützen», sagt Co-Präsident Nicolas A. Rimoldi. Deswegen protestierten sie vergangenen Samstag friedlich in Chur mit grossen «Mass-voll!»-Fahnen und warben auf Plakaten für «Free Hugs». Zurzeit organisiert der Verein Workshops und produziert Rapsongs – finanziert durch private Spendengelder. Inzwischen ist laut Rimoldi Geld im «mittleren vierstelligen Bereich» zusammengekommen.

Ein Blick auf das 15-köpfige Kernteam zeigt, dass auch Joyce Küng und Olivier Chanson dazugehören, die auf ihren persönlichen Social-Media-Kanälen rechtsextremistisches Gedankengut und Verschwörungstheorien verbreiten.

Verdeckte Machenschaften und neue Weltordnung

So verbreitet Joyce Küng auf ihrem Telegram-Kanal Reden von Bundeskanzlerin Angela Merkel und alt-Bundesrätin Doris Leuthard, die angeblich beweisen sollen, dass es eine neue Weltordnung gäbe. Küng repostet auch einen Artikel, der besagt, dass Disney von einer okkulten Elite benutzt werde. Und sie verkündet in ihren eigenen Worten: «Ich glaube, die Welt wird in absehbarer Zeit eine derartige Offenbarung, eine Aufdeckung von verdeckten Machenschaften erfahren, wie es noch nie der Fall war. (...) Bis dahin werde ich das kleine Bisschen tun, das ich dazu beitragen kann.» (Den ganzen Post findest du in der Bildstrecke oben.)

Auf Anfrage von 20 Minuten sagt Küng: «Das mit Merkel, Leuthard und Disney habe ich lediglich gerepostet. Ich will aufzeigen, dass es gar nicht so weit hergeholt ist, wenn man von einer neuen Weltordnung spricht.» Sie persönlich glaube nicht an eine übermächtige Elite, aber es gäbe Machthaber, die das gerne hätten. Sie bedauert es, in die Verschwörungs-Ecke gestellt zu werden. «Mein Ziel ist es, mit solchen Meinungen nicht als extrem zu gelten. Meine Bemühungen werden aber nicht anerkannt.»

Joyce Küng leitet für «Mass-voll!» das Content Team und unterstützte den Massnahmenskeptiker Reto Brennwald bei seinem Film «Unerhört» in der Recherche.

Gleiches Vokabular wie Christchurch-Attentäter

Ein weiteres Kernmitglied ist Olivier Chanson. Der Jung-SVPler verantwortet bei «Mass-voll!» den Bereich Multimedia und Grafikdesign. Diese Woche kursierten auf Twitter Facebook- und Smartvote-Einträge, die Chanson 2019 verfasst hatte und noch immer online sind. So schrieb er: «Der demografische Wandel (auch Bevölkerungsaustausch genannt) muss endlich angesprochen und als Problem für unsere Gesellschaft und Kultur erkannt werden.»

Der Begriff «Bevölkerungsaustausch» ist ein Kampfbegriff der Neuen Rechten, eine rechtsextreme politische Strömung. Laut dem Sozialwissenschaftler Marko Kovic handelt es sich dabei um eine Verschwörungstheorie, in der eine geheime Elite die weisse Bevölkerung aussterben lassen will.

Der Terrorist Brenton Tarrant, der 2019 in Christchurch 51 Menschen erschossen hatte, begründete seinen Massenmord unter anderem mit dieser Verschwörungstheorie. Alle, die diesen Begriff benutzen, seien sich über dessen Bedeutung im Klaren, so Kovic.

Auf Anfrage von 20 Minuten sagt Olivier Chanson: «Ich glaube nicht an einen diabolischen Plan, dass eine Elite die weisse Rasse aussterben lassen will.» Mit dem kritisierten Zitat wollte er «lediglich den Fakt» ansprechen, dass Menschen mit Migrationshintergrund einen «immer grösserern Anteil der Bevölkerung» ausmachen. Er befürchte dadurch den Verlust der Schweizer Identität.

Vereinsleitung «weiss von nichts»

«Mass-voll!»-Co-Präsident Rimoldi sagt, er habe keine Kenntnis von Küngs oder Chansons Aussagen, die in Form von Texttafeln und Screenshots seit ein paar Tagen unter anderem auf Twitter kursieren. Es sei auch nicht an ihm, Mitgliedern den Mund zu verbieten. «Jeder darf seine Meinung äussern. Wir sind unterschiedliche Menschen im Verein, aber wir haben ein gemeinsames Ziel», sagt Rimoldi, der in der Vergangenheit mit Aussagen wie «Deutschland baut wieder Lager» oder «Fehlt nur noch eine Armbinde für Nicht-Geimpfte» auffiel.

Der Verein äussere sich grundsätzlich nicht zu Privatmeinungen, sagt der Co-Präsident. So finden sich auch auf den offiziellen Kanälen von «Mass-voll!» keine Posts oder Kommentare mit Verschwörungstheorien oder rassistischem Gedankengut. «Wir grenzen uns von jeglicher Art des Extremismus ab», sagt Co-Präsidentin Carla Wicki.

Doch was halten Rimoldi und Wicki selbst von den oben erwähnten Aussagen ihrer Vereinsmitglieder? Nicolas A. Rimoldi beantwortet die Frage nicht und sagt: «Dabei handelt es sich um einen Nebenschauplatz. Intern war das noch nie ein Thema.»

«Mass-voll!» als Einstiegsdroge für Verschwörungstheorien?

Sozialwissenschaftler Marko Kovic ist überzeugt, dass es dem Verein um viel mehr geht, als nur um die Lockerung der Corona-Massnahmen. Er sagt: «Der Verein gibt sich gegen aussen hipp und jung. Doch es ist höchst problematisch, dass die Präsidenten solche Verschwörungstheorien ihrer Kernmitgliedern nicht klar verurteilen.» Kovic vermutet, dies geschehe durchaus bewusst. Mit dem vordergründig sozialen Anliegen locke «Mass-voll!» junge Menschen an, die froh seien, endlich eine Gemeinschaft gefunden zu haben, die sie versteht. «Dann aber könnten die Ideologien der Macher Stück für Stück auf die ahnungslosen Jungen überschwappen, wodurch sie radikalisiert werden.» Beweise dafür gibt es keine.

Für Kovic ist aber klar: «Der Verein fungiert als Einstiegsdroge für Verschwörungstheorien.» Es handle sich wohl um eine «auf Hochglanz polierte» Querdenker-Bewegung. Also eine Bewegung, die der Wissenschaft und dem Staat kritisch gegenübersteht und offen für rechte Ideologien ist. Doch damit lasse sich schlecht PR machen.

«Das ist völlig aus der Luft gegriffen, wahrscheinlich wurde Herr Kovic von diesem ‹Hochglanz› geblendet», reagiert Rimoldi. «So einen Stuss habe ich selten gehört. Mit solch haltlosen Unterstellungen wird die Gefahr des Rechts- und auch Linksextremismus verharmlost.»

Aber warum distanziert sich «Mass-voll!» nicht klar gegen die Verschwörungstheorien seiner Kernmitglieder? «Wenn sich der Verein distanzieren würde, hiesse das ja, dass wir Verschwörungstheorien einmal nahe waren. Und das waren wir schlicht nie», sagt Nicolas A. Rimoldi.

Politaktivismus erinnere stark an Identitäre Bewegung

Das anonyme Recherchekollektiv «Element Investigate» kritisiert den Verein auf Twitter von Beginn an und sie sieht ihn als «Tarnorganisation der Identitären Bewegung» (IB), einer rechtsextremistischen und rassistischen Bewegung. Das Kollektiv sagt gegenüber 20 Minuten: «Dieser hippe, junge und ultrarechte Politaktivismus erinnert sehr stark an die IB und hat ideologisch eine grosse Schnittmenge.» Für Marko Kovic geht diese Vermutung aber zu weit, er bestätigt aber die gemeinsame Ideologie der IB und «Mass-voll!».

Als Rimoldi diese Thesen hört, lacht er und sagt: «Diese anonymen und extremistischen Freiheitsfeinde haben für mich keine Relevanz.»

Das Co-Präsidium von «Mass-voll!»

Nicolas A. Rimoldi und Carla Wicki sind seit Jahren befreundet.

Nicolas A. Rimoldi und Carla Wicki sind seit Jahren befreundet.

Verein «Mass-voll!»

Carla Wicki (24) ist Studentin der Rechtswissenschaften und stand vor ihrem Engagement im Verein «Mass-voll!» noch nie in der Öffentlichkeit. Da sie «zu wenig engagiert» war, trat sie vor ein paar Monaten aus dem Jungfreisinn aus.

Nicolas A. Rimoldi (26) ist Ethnologie-Student, FDP-Delegierter und kritisiert immer wieder die eigene Parteiführung. Ob er deswegen im Oktober 2020 aus der FDP Luzern geschmissen wurde, ist nicht klar. Seit September 2020 ist er im Vorstand der «Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz», eine rechtskonservative politische Organisation.

Die beiden haben sich in der Schule kennengelernt und zusammen einen Schülerrat gegründet. «Da dies damals gut funktionierte, fragte ich Carla, ob sie mit mir das Co-Präsidium von ‹Mass-voll› machen wolle», so Rimoldi.

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