Mörder ohne Strafe: Personalmanel an Uni Zürich verschärft Problem

Aktualisiert

Rechtsmediziner alarmiert«So kommen Mörder mit ihren Taten einfacher davon»

Jedes zweite Tötungsdelikt in der Schweiz wird laut einer Untersuchung gar nie entdeckt. Wegen Personalproblemen am Institut für Rechtsmedizin der Uni Zürich drohen jetzt noch mehr Mörder ungestraft davonzukommen.

Darum gehts

  • Dem Rechtsmedizinischen Institut Zürich fehlt es an Personal. Das Institut ist dafür zuständig, die Todesursache zu beurteilen, wenn ein Arzt nicht überzeugt ist, dass jemand an einer natürlichen Todesursache gestorben ist.

  • Ein Brief, den Institutsdirektor Michael Thali aufgrund des Personalmangels verschickte, stösst ehemaligen Rechtsmedizinern des IRM Zürich sauer auf: Sie fürchten, dass jetzt mehr Tötungsdelikte ungeklärt bleiben.

  • Schon heute wird gemäss einer Untersuchung aus dem Jahr 2014 wohl die Hälfte aller Tötungsdelikte gar nie als solche erkannt.

  • Das IRMZ wehrt sich: Der Personalmangel sei dem Fachkräftemangel geschuldet, die Aufklärungsrate habe sich nicht verschlechtert.

Das ist passiert

Am 18. April verschickte Michael Thali, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin Zürich (IRMZ), einen Brief an Oberstaatsanwälte, Polizeikommandanten und Kader der Kriminalpolizei. Das Institut müsse «aufgrund zunehmend ungenügender personeller Ressourcen» Massnahmen ergreifen. Die Adressaten wurden aufgefordert, nur noch «wirkliche aussergewöhnliche Todesfälle» dem IRM zu melden.

Wird in der Schweiz jemand begraben, auf dessen Totenschein «Natürlicher Tod» steht, muss das nicht immer stimmen. In der Schweiz wird gemäss einer Untersuchung in der Fachzeitschrift «Kriminalistik» aus dem Jahr 2014 womöglich die Hälfte aller Tötungsdelikte nicht als solche erkannt, weil fälschlicherweise von einer natürlichen Todesursache ausgegangen wird. Autoren der Untersuchung sind SP-Ständerat und Strafrechtsprofessor Daniel Jositsch, Christian Jackowski, heute Direktor des Rechtsmedizinischen Instituts Bern, und Roland Hausmann, Chefarzt am Institut für Rechtsmedizin des Universitätsspitals St. Gallen. 

Dieses Problem droht sich nun noch zu verschärfen, weil das IRMZ unter Personalmangel leidet. Erfahrene Rechtsmediziner sind sich einig: Das ist gefährlich für den Rechtsstaat Schweiz. 20 Minuten zeigt auf, wo Fehler passieren und warum der Personalmangel dazu führen könnte, dass mehr Mörder mit ihren Taten davonkommen.

Was bedeutet das?

Was ein aussergewöhnlicher Todesfall ist und wie ermittelt wird, ob jemand eines natürlichen Todes gestorben ist oder nicht, wird hier erklärt. Bevor eine Rechtsmedizinerin oder ein Rechtsmediziner sich einer Leiche annimmt, muss zwingend immer eine Ärztin oder ein Arzt den Tod feststellen. Thali beklagt im Brief, die Rechtsmedizinerinnen und Rechtsmediziner müssten sich vermehrt mit der Arbeit von Hausärztinnen und Hausärzten beschäftigen und «natürliche Todesfälle attestieren». Das IRM sei nur für «wirkliche aussergewöhnliche Todesfälle» zuständig.


Wieso ist das ein Problem?

Aus mehreren Gründen, wie drei erfahrene Rechtsmediziner gegenüber 20 Minuten sagen (mehr zu den Quellen unten).

  • Sie stören sich am Begriff: Es gebe keine «wirklichen» aussergewöhnlichen Todesfälle. Könne eine Ärztin oder ein Arzt eine unnatürliche Todesursache nicht ausschliessen, sei sie oder er verpflichtet, einen aussergewöhnlichen Todesfall zu melden. «Er kann nicht beurteilen, ob es ‹wirklich› ein aussergewöhnlicher Todesfall ist. Diese Unterscheidung untergräbt jahrzehntelange Bemühungen, möglichst alle nicht natürlichen Todesfälle zu entdecken», sagt einer der Rechtsmediziner. Ob ein Todesfall natürlich sei oder nicht, könne abschliessend einzig ein Rechtsmediziner beurteilen.

  • Das IRM komme mit seiner Arbeit nicht mehr nach: «Dass der Direktor einen solchen Brief verschicken muss, zeigt, dass man dort überfordert ist», sagt ein ehemaliger leitender Rechtsmediziner, der heute pensioniert ist.

  • Die Aufforderung des IRM erhöhe den Druck auf Polizisten und Ärzte, die oft als Erstes bei einem Leichnam seien, die Rechtsmedizin nicht zu verständigen. «Die Polizei und die Ärzte, die die erste Leichenschau durchführen, sprechen miteinander, das ist völlig normal. Es besteht aber die Gefahr, dass Polizisten aufgrund des Briefs Druck auf die Ärzte machen, einen natürlichen Todesfall zu attestieren.»

  • Die Konsequenz: Die jetzt schon hohe Dunkelziffer an Todesfällen, die fälschlicherweise als natürliche Todesfälle vermerkt werden, nehme weiter zu. Ein erfahrener Rechtsmediziner bringt es auf den Punkt: «Dieser Brief trägt dazu bei, dass Mörder im Kanton Zürich mit ihren Taten einfacher davonkommen.»

Das sagt das IRM Zürich

Das IRM erklärt den Brief so: «Wir wurden in den letzten Monaten und Jahren vermehrt zu Todesfällen aufgeboten, bei denen keinerlei Anhaltspunkte für ein Gewaltverbrechen vorlagen, aber der Hausarzt nicht erreichbar war, und mussten lediglich den Totenschein ausfüllen.» Bisher sei es zu «keinen gravierenden Engpässen in der forensischen Versorgung der acht Kantone, welche das IRM Zürich betreut, gekommen».

Die Untersuchung von 2014 basiere auf Zahlen aus Deutschland und sei nicht zutreffend, da in Deutschland Rechtsmedizinerinnen und Rechtsmediziner in der Regel nur bei Tötungsdelikten ausrückten. Die Dunkelziffer sei in den Augen des IRM nicht grösser geworden.

Vorwürfe, das IRM sei überfordert, weist die Uni von sich. «Die Fluktuation am IRM in den letzten zwölf Monaten liegt im normalen Durchschnitt», heisst es von der Medienstelle. Aufgrund von mehr Arbeit gebe es derzeit «einige Vakanzen». Diese versuche das IRMZ, mit verschiedenen Rekrutierungsstrategien zu besetzen. Dafür sei auch eine externe Agentur für eine Kampagne engagiert worden. Auf den Brief von Direktor Thali habe es «sowohl positive wie negative Rückmeldungen gegeben, die fachspezifischer Natur waren».

Führungsproblem am IRM?

Derzeit sind 14 Stellen ausgeschrieben am IRM. Die Personalsituation habe sich in letzter Zeit drastisch verschlechtert, sagen verschiedene Quellen. Das deutet auf ein Führungsproblem hin: Weder Bern noch St. Gallen oder Basel kennt ähnliche Probleme, wie die dortigen rechtsmedizinischen Institute auf Anfrage bestätigen. Das IRMZ hingegen sagt: «Alle IRM und insbesondere die Ausbildungsinstitute stehen vor ähnlichen Problemen. Generell herrscht überall Fachkräftemangel.»

Hinter vorgehaltener Hand werden Vorwürfe gegen die Führung durch Institutsleiter Michael Thali laut. Fakt ist: Die personelle, organisatorische und finanzielle Führung des Instituts hat im Frühjahr 2023 Thalis Stellvertreter Thomas Krämer übernommen. Bei einer Mitarbeiterbefragung 2022 sei es insgesamt zu 50 Meldungen von ehemaligen und aktuellen Mitarbeitenden gekommen, wie die Uni bestätigt – bei 180 Mitarbeitenden.

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