«Ohne Dialyse wären wir in zehn Tagen tot»

Aktualisiert

Jung und nierenkrank«Ohne Dialyse wären wir in zehn Tagen tot»

Florence (23) und Buket (24) warten auf eine neue Niere. Bis dahin müssen sie drei Halbtage pro Woche in die lebensrettende Dialyse.

Désirée Pomper
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Désirée Pomper

Florence (23) und Buket (24) brauchen dringend eine neue Niere. Sie sagen: «Wir müssen unser Leben im Spital verbringen. Dabei sind wir doch noch so jung!» Video: Simona Ritter/ Murat Temel

Florence und Buket, erinnert ihr euch an den Moment, als eure Nieren versagt haben?

Florence: Ich war 11, als ich erkrankte und 20, als die Nieren ganz kaputt gingen. Es war kurz nach Neujahr und ich fühlte mich unwohl. Als ich innerhalb von drei Tagen vier Kilogramm zugenommen hatte, realisierte ich, dass mein Körper Wasser einlagerte und meine Nieren nicht mehr funktionierten. Das war krass. Ich wusste, ab jetzt würde nichts mehr so sein wie früher. Ein paar Monate später musste ich regelmässig in die Dialyse, um mein Blut zu reinigen. Ich konnte plötzlich nicht mehr essen und trinken, was und wie viel ich wollte. Ich war sehr bedrückt in dieser Zeit.

Buket: An meinem 9. Geburtstag musste ich notfallmässig ins Spital. Dort erfuhren wir, dass meine Nieren kaputt waren. Meine Mutter spendete mir darauf die ihrige, mit der ich zehn Jahre sehr gut lebte. Dann aber hat sie mein Körper abgestossen. Seit vier Jahren bin ich an der Dialyse.

Ihr verbringt drei halbe Tage pro Woche in der Dialyse. Wie beeinflusst das euer Leben?

Florence: Ich bin gelernte Kauffrau, arbeite 50 Prozent und beziehe 50 Prozent IV-Rente. Ich würde gern mehr arbeiten, kann aber nicht, weil ich ja die restliche Zeit im Spital bin. Ich würde auch extrem gern eine Weiterbildung machen, eine Karriere aufbauen. Aber solange ich auf die Dialyse angewiesen bin, geht das nicht.

Buket: Ich habe Köchin gelernt, kann nun aber nicht mehr arbeiten und beziehe hundert Prozent IV – obwohl ich so gern arbeiten würde! Aber ich fühle mich einfach zu schwach. Ausserdem kann ich nicht mehr in die Ferien. Sollte eine Nierenspende bereitstehen, muss ich innerhalb einer Stunde im Spital sein.

Florence (23) und Buket (24) dürfen nicht mehr als einen Liter Wasser pro Tag trinken.

Wie muss man sich eine Dialyse vorstellen?

Florence: Ich punktiere mich selber und schliesse mich an eine Maschine an, die während vier Stunden das Blut reinigt. Ich kuschle mich in eine Decke, lese, schaue Netflix oder schlafe. Ich nutze diese Zeit oft, um mich zu entspannen.

Buket: Du punktierst dich mit den Nadeln selber? Das könnte ich nie! Während der Dialyse male ich oft Mandalas. Telefonieren würde ich nie. Ich möchte dann einfach meine Ruhe.

Buket ist seit vier Jahren in der Dialyse – dreimal die Woche für vier Stunden.

Ihr müsst extrem auf eure Ernährung schauen. Auf was müsst ihr alles verzichten?

Buket: Ich habe schon so lange keine Schokolade gegessen. Oder Chips! Wenn ich eine neue Niere habe, kaufe ich mir gleich einen riesigen Sack.

Florence: Oder einen Big Mac … Aber Salz ist nicht gut für uns, auch weil es durstig macht. Wir dürfen pro Tag höchstens einen Liter Wasser zu uns nehmen, sei es in flüssiger oder fester Form. Alles, was wir trinken, nehmen wir zu, da wir kein Wasser mehr lösen können. Die Niere gibt der Blase nicht mehr das entsprechende Signal. Trinken wir zu viel, blähen wir uns auf wie ein Fisch. Ausserdem sollten wir keine Lebensmittel essen, die viel Kalium oder Phosphat enthalten, etwa Bananen, Gemüse oder Vollkornbrot.

Buket: Wenn ich manchmal meine Kollegen sehe, wie sie Alkohol trinken, denke ich: Ach, ich will doch auch dazugehören. Aber es geht nicht.

Florence: Im Ausgang trinke ich höchstens einen Cocktail und einen Shot. Mehr liegt nicht drin. Zum Glück bin ich mit Leuten unterwegs, die wissen, dass ich nicht zu viel Flüssigkeit trinken darf, und Verständnis dafür haben.

Was würde passieren, wenn ihr nicht mehr in die Dialyse gehen würdet?

Florence: Unser Körper kann wegen der fehlenden Niere keine Flüssigkeit oder Giftstoffe über den Urin abgeben. Das geht nur über die Dialyse. Das heisst, alles, was wir trinken, nehmen wir zu. Ohne die Dialyse würden wir vergiften. Innert zehn Tagen wären wir tot.

Buket: Mir wurde gesagt, es passiere, ohne dass man es merke. Man schlafe ein und sei dann einfach weg.

Ohne Nieren zu leben, ist kräftezehrend. Wo holt ihr euch Energie?

Florence: Das erste Jahr mit Dialyse ging es mir psychisch schlecht und ich habe mich zurückgezogen. Nun kann ich meine Kräfte aber viel besser einteilen und bin auch wieder mit meiner Familie oder Freunden unterwegs.

Buket: Nach der Dialyse bin ich oft aggressiv. Die Wut muss ich irgendwie rauslassen. Das mache ich beim Gokartfahren. Das tut mir richtig gut. Und ich habe eine Jahreskarte für den Europapark, der genau eine Stunde vom Spital entfernt ist. Das ist der einzige Ort, an dem ich meine Krankheit vergessen kann. Das ist wie Ferien für mich. Und Kraft hole ich mir natürlich auch bei meinem Verlobten. Bevor ich ihn kannte, habe ich mich in meinem Zimmer verkrochen.

Weil Florence und Buket dreimal die Woche in die Dialyse gehen und allzeit für eine Nierentransplantation bereit sein müssen, liegen Ferien fast nicht drin.

Wie geht dein Partner mit der Krankheit um?

Buket: Ich habe ihm gesagt: Entweder du kommst klar damit oder wir beenden es. Aber ich hatte solches Glück mit ihm. Mein Verlobter unterstützt mich und begleitet mich manchmal zu den Dialysen. Meine Mutter hat ihm gesagt: Dank dir ist meine Tochter wieder so, wie als sie noch Nieren hatte.

Florence: Ich bin Single. Ich hätte zwar gern einen Partner, aber es ist nicht einfach, sich jemandem zu öffnen. Ich müsste der Person erklären, dass ich in die Dialyse muss, Nebenwirkungen habe, oft müde bin. Ich glaube, viele Menschen kennen das gar nicht. Dieses Gefühl der dauerhaften Müdigkeit. Viele Leute aus meinem Umfeld wissen nicht einmal, dass ich krank bin, oder sagen mir, man sehe mir gar nichts an. Aber wenn ich ehrlich bin, gibt es nur etwa zwei Tage pro Woche, an denen es mir wirklich gut geht.

Wie lange wartet ihr schon auf eine Niere?

Florence: Seit drei Jahren. Ich habe die seltene Blutgruppe AB und könnte von jedem Blut oder eben eine Niere annehmen. Aber wir haben in der Schweiz das Gesetz, dass ich über die Warteliste nur eine Niere von derselben Blutgruppe bekommen kann. Wenn es einen Lebensspender gäbe, der seine Niere anbieten würde, könnte ich diese annehmen, egal, welche Blutgruppe, aber leider gibt es niemand in meinem Umfeld, der das machen würde. Es kann also durchaus sein, dass ich zehn Jahre warten muss. Das ist extrem frustrierend.

Buket: Ich warte schon vier Jahre. Bei der Dialyse bin ich mit Abstand die jüngste Patientin. Ich frage mich, warum bekommen so viele alte Patienten eine Niere und ich nicht?

Wie ist es für euch, auf den Anruf des Spitals zu warten, dass endlich eine Niere da ist?

Buket: Mein Handy ist immer auf ganz laut gestellt. Bei jedem Anruf bleibt mir kurz das Herz stehen.

Florence: Der Gedanke, dass jederzeit der Anruf kommen könnte, macht mich ganz nervös. Ich habe das Gefühl, einen Koffer bereithaben zu müssen.

Wie geht es euch beim Gedanken daran, dass ihr das Organ einer verstorbenen Person in euch haben könntet?

Florence: Phuu …

Buket: Ich bin sicher, dass es eine Verbindung zum Spender gibt. Ich habe ja selber zehn Jahre lang mit der Niere meiner Mutter gelebt. Plötzlich mochte ich Wassermelonen wie sie. Ich habe auch gemerkt, wenn sie traurig war. Wenn ich mir vorstelle, dass die Niere von einem Unbekannten kommt und ich plötzlich von dieser Person träumen würde … Dann aber denke ich: Hauptsache, es geht mir gesundheitlich wieder gut.

Florence und Buket: «Bitte überlegt euch, euch einen Organspendeausweis zuzulegen.»

Tut die Schweiz genug für Menschen, die eine Niere brauchen?

Florence: Die Schweiz ist medizinisch so weit fortgeschritten, aber wir haben extrem wenig Nierenspender im europäischen Vergleich. Einerseits haben wenig Leute einen Spenderausweis. Andererseits sind auch wenige gesunde Menschen bereit, ihre Niere zu spenden. Dabei kommt man auch nur mit einer Niere perfekt durchs Leben!

Buket: Wir sind so jung. Aber wir verbringen unser Leben im Spital. Dabei will ich doch heiraten und Kinder bekommen. Mit der Dialyse und ohne neue Niere kann ich das aber vergessen. Die Leute sollten sich unbedingt informieren und sich zumindest überlegen, ob sie nicht einen Spenderausweis machen wollen. Für uns Patienten wäre das eine riesige Hilfe.

Wie stellt ihr euch ein Leben mit einer neuen Niere vor?

Buket: Ich will eine Umschulung machen, eine Familie gründen und endlich richtig Ferien machen.

Florence: Und wir werden endlich viel essen und viel trinken, bis wir nicht mehr können. Ich hoffe so sehr, dass meine Niere bald kommt und sie mein Körper gut annimmt.

4500 Dialysepatienten

Ein Dialysegerät.

2015 wurden in der Schweiz 4453 Dialysepatienten erfasst. Die Dialysebehandlung für Patienten mit chronischem Nierenversagen belief sich auf 296 Millionen Franken. Das entspricht 0,4 Prozent der Schweizer Gesundheitskosten.

282 Personen haben ihre Organe gespendet

In der Schweiz warten schwerkranke Menschen im Durchschnitt ein Jahr auf ein Spendeorgan. Die Spendezahlen sind im europäischen Vergleich noch immer tief. 2017 haben 282 Personen ihre Organe gespendet. Über 1400 Menschen in der Schweiz warten momentan auf eine lebensrettende Organspende.

In der Schweiz gilt die erweiterte Zustimmungslösung: Um sich als Spender zur Verfügung zu stellen, muss der Betroffene seine Zustimmung schriftlich abgeben. Der Bundesrat will das ändern: Wer nach seinem Tod seine Organe nicht spenden will, muss dies explizit festhalten. Dazu wird ein Register geschaffen, in dem ein Widerspruch einfach eingetragen werden kann. Findet sich kein dokumentierter Wille, werden wie bisher die Angehörigen befragt.

Die vom Bundesrat vorgeschlagene Änderung des Transplantationsgesetzes, die bis am 13. Dezember in die Vernehmlassung geht, ist ein indirekter Gegenvorschlag zur Initiative «Organspende fördern – Leben retten». Diese fordert ebenfalls die Einführung einer Widerspruchslösung, ohne aber die Rechte der Angehörigen explizit zu regeln. Österreich, Italien, Spanien oder die skandinavischen Länder kennen bereits eine entsprechende Lösung.

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