Israel und Gaza: «Eine Bodenoffensive ist das Schreckensszenario»

Aktualisiert

Israelische Streitkräfte«Bei einer Bodenoffensive dürften die allermeisten Geiseln sterben»

Israel beschiesst als Reaktion auf den Terrorangriff der Hamas Hunderte Ziele im Gazastreifen. Auch eine Bodenoffensive mit dem Ziel, die Hamas vollständig militärisch zu vernichten, ist laut Experte Roland Popp nicht mehr ausgeschlossen. 

Darum gehts

  • Rund 150 Geiseln hat die Hamas bei ihrem terroristischen Angriff auf Israel wohl in den Gazastreifen verschleppt. 

  • Als Reaktion darauf hat Israel angekündigt, den Gazastreifen von der Versorgung mit Wasser, Lebensmitteln, Strom und Energie abzuschneiden. 

  • Auch eine Bodenoffensive ist gemäss Beobachtern nicht mehr auszuschliessen. 

  • Roland Popp von der Militärakademie an der ETH Zürich erklärt, welche Optionen Israel hat, um die Geiseln lebend zu retten. 

Die islamistische Terrororganisation Hamas hat bei ihren Angriffen auf Israel 150 Geiseln verschleppt. Israel reagierte auf die Angriffe und Entführungen mit grossangelegten Luftanschlägen und einer Abriegelung des Gazastreifens. Roland Popp von der Militärakademie Milak der ETH Zürich ordnet ein. 

Israel bereitet derzeit eine Bodenoffensive in Gaza vor. Gehen damit nicht enorme Risiken einher?

Absolut. Eine Bodenoffensive ist das eine militärische Szenario, das Israel immer vermeiden wollte. Zumal viele der Vorteile einer mechanisierten Streitmacht sich im Stadtkampf, im Gefecht im bebauten Gelände, nivellieren. Dazu noch die Präsenz einer Zivilbevölkerung von zwei Millionen auf engstem Raum. Eine Bodenoffensive ist das Schreckensszenario der israelischen Streitkräfte, die nun aber von politischer Seite ernsthaft in Erwägung gezogen wird. Doch es gibt auch etwas, das dagegen spricht.

Was?

Das Schicksal der wohl über Hundert israelischen Geiseln in der Hand der Hamas. Wenn man die israelische Geschichte kennt – im Grunde ist der Schutz jedes jüdischen Lebens auf der Welt die Staatsräson – dann weiss man, dass dieser Faktor massiven Einfluss auf die politischen und militärischen Entscheidungen haben wird.

«Eine militärische Besetzung wird ziemlich sicher auf Kosten des Lebens der allermeisten Geiseln gehen.»

Roland Popp, Milak

Welche Optionen hat Israel vor diesem Hintergrund?

Nicht viele. Angesichts der Zahl der Geiseln und ihrer wahrscheinlichen Verteilung im Gazastreifen sind Befreiungsoperationen illusorisch, die historischen Beispiele eher ernüchternd. Eine militärisch angedachte Option ist es, den gesamten Gazastreifen zu besetzen und die Hamas vollständig militärisch zu vernichten. Aber: Das ist militärisch und politisch eine grosse Herausforderung und wird ziemlich sicher auf Kosten der Leben der allermeisten israelischen Geiseln gehen.

Und die andere Möglichkeit?

Auf einen Einmarsch verzichten und auf regionale und internationale Verhandlungen setzen, um diese Leben zu retten. Aber: Das ist nach so einem brutalen terroristischen Angriff mit mehreren Hundert toten israelischen Zivilisten für die israelische Regierung undenkbar. Auch dürften sich Verhandlungen mit den Tätern, die natürlich exorbitante Forderungen haben werden, über eine lange Zeit hinwegziehen, vielleicht über Jahre. Denken wir an den Fall Gilad Schalit.

Was passierte damals? 

Die israelische Regierung betrieb damals einen enormen Aufwand, um diesen einen entführten Soldaten zu befreien, die Verhandlungen zogen sich fünf Jahre und man musste über 1000 palästinensische Gefangene gegen ihn austauschen. Jetzt sprechen wir von 100 bis 150 Geiseln, darunter Frauen und Kinder. Eine andere Tragweite. Den politischen Weg der Vermittlung wird die israelische Regierung mit ihrem rechtskonservativen bis rechtsextremistischen Anstrich nicht zu gehen bereit sein, glaube ich.

«Den politischen Weg der Vermittlung wird die israelische Regierung nicht zu gehen bereit sein, glaube ich.»

Roland Popp, Milak

Also doch die militärische Option, mit allen Konsequenzen?

In solchen ausweglosen Momenten finden häufig zuvor undenkbare Vorschläge Gehör. Womit wir bei einer weiteren Option wären, die im Grunde auch in einer Linie mit früherer israelischer Politik stünde: die Zivilbevölkerung in Gaza in einem Ausmass leiden zu lassen, in der Hoffnung, dass jede Unterstützung der Bevölkerung für die Hamas wegbricht und man die Organisation so zur Aufgabe und zur Freilassung der Geiseln bewegen kann.

Geht das auf?

Ich halte das für eine relativ absurde Logik und es hat auch in der Vergangenheit nie funktioniert. Denn was kann eine Zivilbevölkerung tun, die - grösstenteils gegen ihren Willen - von einer Terrororganisation regiert wird? Die Menschen in Gaza haben keine Macht und keine Fürsprecher. Dennoch ist diese Idee in den Köpfen israelischer Strategen tief verankert, also über eine schrittweise Verschlechterung der Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung die Hamas zu Zugeständnissen zu bewegen. In diesem Fall: die Geiseln unversehrt freizugeben. Die jüngsten Verlautbarungen der israelischen Militärführung scheinen meine Vermutungen zu bestätigen.

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