Lässt Israel die Geiseln im Stich?

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Rückzug aus GazaIsrael zieht Bodentruppen ab – lässt das Land die Geiseln im Stich?

Der Abzug der israelischen Truppen aus dem Süden des Gazastreifens kommt überraschend und wirft Fragen auf. Nahost-Experte Andreas Böhm beantwortet die wichtigsten.

Darum gehts

  • Der Entscheid kam überraschend: Israel zieht sich grösstenteils aus dem Gazastreifen zurück.

  • Das sei aber noch lange nicht das Ende des Kriegs, sagte der Generalstabschef.

  • Was bedeutet der Rückzug und welche Rolle spielt die Bedrohung durch den Iran? Nahost-Experte Andreas Böhm schätzt ein.

Nach einer monatelangen Bodenoffensive gegen die Hamas hat Israel am Sonntag den Grossteil ihrer Soldaten aus dem südlichen Gazastreifen abgezogen. Die 98. Kommandodivision der israelischen Armee habe «am 7. April ihren Einsatz in Khan Yunis beendet» und den Gazastreifen «verlassen, um sich zu erholen und sich auf zukünftige Operationen vorzubereiten», erklärte ein Armeevertreter gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.

Dieser Strategiewechsel wirft Fragen auf. 20 Minuten beantwortet die wichtigsten.

Ist der Krieg damit vorbei?

Nein. Israels Generalstabschef Herzi Halevi machte noch am Sonntag deutlich, dass ein Ende des Krieges noch lange nicht in Sicht sei. «Der Krieg in Gaza dauert an, und wir sind weit davon entfernt, aufzuhören», sagte er.

Am Montag sagte Premierminister Benjamin Netanjahu, der Plan für einen Angriff auf Rafah stehe bereits. Der Sieg über die radikalislamische Hamas erfordere «den Einmarsch in Rafah und die Eliminierung der dortigen Terroristenbataillone».

Wieso zieht Israel die Truppen ab?

Offiziell heisst es, dass die Mission in Khan Yunis beendet sei. Laut Nahost-Experte Andreas Böhm handelt es sich aber eher um einen Strategiewechsel, der mehrere Gründe haben könnte:

Hoffen auf mehr Erfolg mit anderer Strategie: «Die IDF gehen wohl davon aus, mit gezielten Operationen im Gazastreifen mehr erreichen zu können. Counter-Terrorism- und Militärexperten haben bereits seit Monaten darauf hingewiesen, dass man der Hamas so zielgerichteter und besser entgegentreten kann und zudem die Zivilbevölkerung schont.»

Pause für die Truppen: Die israelischen Truppen sind bereits seit Monaten im Einsatz. «Auch das könnte ein Grund für den Rückzug sein.» Das schliesse einen Angriff auf Rafah aber nicht aus, wie Netanjahus Ankündigung, dass das Datum für einen Angriff bereits stehe, zeige.

Druck der USA: Sicher habe auch der zunehmende Druck der USA eine Rolle gespielt. «Aber nicht die alles entscheidende», sagt der Experte.

Fokus auf Hisbollah: Weiter sei eine Befürchtung, dass Israel nun einen stärkeren Fokus auf die nördliche Front, sprich auf die Hisbollah richte.

«Mit dem Teilabzug der Truppen wird vermutlich Anarchie Einzug halten.»

Hat Israel seine Ziele erreicht?

Nein. Das oberste Ziel, die vollständige Vernichtung der Terrororganisation Hamas, wurde nicht erreicht. Experten sagten schon früh, dass das kaum möglich sein werde: Der grossangelegte Angriff könne die Gruppe zwar militärisch schwächen, deren Ideologie aber nicht besiegen. Auch das zweite Ziel der israelischen Armee, die Befreiung sämtlicher Geiseln, wurde bisher nicht erfüllt.

Dutzende Familienangehörige von in den Gazastreifen verschleppten Israelis stürmten am Montagmorgen, 22. Januar 2024, eine Sitzung des Finanzausschusses im israelischen Parlament.

20min

Welche Folgen hat das auf die Situation im Gaza?

«Ganz grundsätzlich war und ist es ein strategischer Fehler Israels, den Militäreinsatz begonnen zu haben, ohne zu wissen, was danach folgt», sagt Böhm. Dieser Fehler gipfle jetzt im Rückzug: «Mit dem Teilabzug der Truppen wird vermutlich Anarchie Einzug halten.»

Was passiert jetzt mit den Geiseln, die sich noch in Hamas-Gefangenschaft befinden?

Laut Böhm hat der Rückzug mit der Befreiung der Geiseln vermutlich wenig zu tun: «Diesem Ziel hat die israelische Regierung ohnehin nur zweitrangige Bedeutung eingeräumt, was Finanzminister Smotrich auch offen ausgesprochen hat.» Die Hoffnung, dass weitere Geiseln durch militärische Operationen lebend befreit werden, ist angesichts der vernichtenden Bilanz der bisherigen Geiselbefreiungsaktion gering. Von den 253 Geiseln sind:

  • 105 durch einen Gefangenenaustausch freigekommen

  • Vier von der Hamas freigelassen worden

  • Drei von der israelischen Armee gerettet worden

  • Zwölf Leichen repatriiert worden

  • Damit bleiben noch 129 Menschen, die am 7. Oktober verschleppt worden sind, in Geiselhaft.

  • Von diesen 129 sind laut israelischen Angaben mindestens 34 und bis zu 50 Geiseln bereits tot.

Wann kehrt Frieden ein?

Der ist laut Böhm noch weit weg: «Am Sonntag fand wieder eine Verhandlungsrunde in Kairo statt, Ägypten und Katar machen Druck auf Israel und die Hamas, die USA auf Israel, um zu einem Ergebnis zu kommen. Die Eckdaten liegen seit Monaten auf dem Tisch, doch es kam bislang zu keiner Einigung.» Die Nachrichtenagentur dpa berichtete am Montagabend, dass die Verhandlungen über eine Waffenruhe noch nicht den erhofften Durchbruch gebracht hätten. Indirekte Gespräche der Kriegsparteien in Kairo sollen nach Darstellung der islamistischen Hamas ohne Fortschritte unterbrochen worden sein.

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