Therapy Speak: Darum solltest du nicht reden wie in der Psychotherapie

In freundschaftlichen Gesprächen das Vokabular aus der Therapie zu verwenden, ist nicht immer empfehlenswert.

In freundschaftlichen Gesprächen das Vokabular aus der Therapie zu verwenden, ist nicht immer empfehlenswert.

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Therapy SpeakDarum solltest du nicht reden wie in der Psychotherapie

Begriffe aus der Psychotherapie werden zunehmend auch im Alltag verwendet. Warum dieser Therapie-Jargon problematisch sein kann und worauf du achten musst. 

Michelle de Oliveira
von

Psychologische Beratung und Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist heute immer weniger ein Tabu und die Wichtigkeit der mentalen Gesundheit nimmt einen immer grösseren Stellenwert ein. Doch die eigentlich begrüssenswerte Entwicklung bringt auch das Phänomen mit sich, dass sich viele Menschen im Alltag der Therapie-Sprache bedienen. Auf Tiktok gehen Videos viral, die dem sogenannten Therapy-Speak auf den Grund gehen.

Natürlich ist es sinnvoll, das, was man in der Therapie lernt, im Alltag anzuwenden, das ist letztlich das Ziel. Doch werden Begriffe wie etwa «Trigger», «Narzissmus» und «traumatisch» unbedacht und vor allem inflationär gebraucht, kann das problematisch sein.

 Begegnet dir Therapy-Speak im Alltag?

Auch auf Tiktok gibt es unzählige Videos, die solche Therapie-Begriffe verbreiten. Das ist nicht ausschliesslich schlecht – es kann helfen, sich den eigenen Gefühlen anzunähern und zu erkennen, was möglicherweise dahintersteckt. Aber sich nur mithilfe solcher Videos eine Diagnose zu stellen – oder eben auch das Umfeld zu diagnostizieren – ist sinnlos, und manchmal sogar gefährlich. Dazu ist eine professionelle Therapie nötig, die jede für sich alleine machen muss, wenn er oder sie das Bedürfnis hat. 

Nur mit einer professionellen Therapie lassen sich gewisse Diagnosen stellen.

Nur mit einer professionellen Therapie lassen sich gewisse Diagnosen stellen.

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Denn hinter diesen Begriffen stehen grosse Themen. Ein Trauma zum Beispiel ist eine starke psychische Erschütterung, die sehr lange Zeit noch mit belastenden Gefühlen einhergeht. Wenn nun im Alltag eine vergleichsweise harmlose Situation – ein nerviges Gespräch mit der Chefin – als traumatisch bezeichnet wird, kann das für Leute mit tatsächlich traumatischen Erlebnissen wie ein Hohn wirken.

Ständig «triggert» etwas

Auch scheint heute ganz vieles «zu triggern»: Jemand sagt vielleicht ständig ein Wort, das uns nervt und wir sagen dann «Das triggert mich so sehr!». Dabei steht «Trigger» im psychologischen Sinne für ein viel stärkeres Phänomen: Es kann so weit kommen, dass bei einer Person durch einen Reiz – Gerüche, Geräusche oder Situationen – plötzlich ein vergangenes, traumatisches Erlebnis wieder hochkommt. Das kann so stark sein, dass die betroffene Person manchmal nicht mehr unterscheiden kann, ob die Situation real ist oder nicht. Spricht man also einfach so leicht daher, dass einen der Kollege triggert, weil er sich ständig wiederholt, hat das nichts mit der tatsächlichen Bedeutung zu tun.

Die Therapeutin Israa Nasir sagt in einem Tiktok-Video über die Problematik des Therapy-Speak: «Wir fangen an, eine Sprache zu verwenden, die wir nicht wirklich vollständig verstehen.» Und sie erklärt weiter: «Viele dieser Konzepte sind sehr komplex und vielschichtig und existieren oft nicht in einer Schwarz-Weiss-Situation. Sie sind manchmal nicht dafür gedacht, ausserhalb des therapeutischen Umfelds verwendet zu werden.» 

Therapy-Speak führt zu Beziehungsproblemen

Auch in Beziehungen kann es problematisch werden, wenn man das Vokabular aus der Therapie eins zu eins überträgt. «Es kann Beziehungen regelrecht ruinieren», sagt Therapeutin Israa Nasir. Die andere Person ist mit den psychologischen Konzepten vielleicht nicht vertraut und aus dem Therapie-Kontext gerissen kann es unterkühlt und überheblich wirken, wenn man mit solchen Begrifflichkeiten um sich wirft. Nasir sagt dazu im Video: «Therapeutische Sprache, die in Beziehungen verwendet wird, führt zu einer klinischen Erfahrung statt emotionaler Intimität. So zu sprechen, schafft Distanz und lässt nicht viel Raum für echte Verletzlichkeit.»

Es spricht natürlich nichts dagegen, sich mit psychologischen Konzepten vertraut zu machen und dadurch die eigenen Gefühle zu hinterfragen und vielleicht auch besser zu verstehen. Aber die Begriffe sollten ausserhalb des Therapie-Kontextes und im Gespräch mit anderen nur bedingt und wohlüberlegt verwendet werden.

Hast du oder hat jemand, den du kennst, psychische Probleme?

Hier findest du Hilfe:

Pro Mente Sana, Tel. 0848 800 858

Kinderseele Schweiz, Beratung für psychisch belastete Eltern und ihre Angehörigen

Verein Postpartale Depression, Tel. 044 720 25 55

Angehörige.ch, Beratung und Anlaufstellen

VASK, regionale Vereine für Angehörige

Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147

Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143

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